TikTok: Dauerberührt

Autor*innen
Yasmine M'Barek
Eine Hand hält ein Smartphone, aus dem das Wifi-Symbol zu kommen scheint.

TikToks aus dem Krieg, "Bridgerton", ein krebskrankes Kind. Die Generation Z konsumiert die Weltlage roh und ungefiltert. Das macht sie nicht kalt, sondern zu Realisten.

Montag, 7.41 Uhr: Als Erstes sehe ich Soldaten. Sie schießen, schreien, rennen, liegt dort ein Toter auf dem Boden? Kurze Schauer. Dann mache ich mir einen doppelten Espresso. Ich würge ihn ohne Zucker runter. Ich sitze auf dem Bett, die Motivation zum Aufstehen hält sich in Grenzen.

7.55 Uhr: Ich sehe, wie Kinder nach Überraschungseiern greifen. Die Musik, hochemotional, verwirrt mich, dann lese ich die Bildunterschrift: "We try to make ukrainian kids smile." Das Video spielt irgendwo in Georgien. Mein Kopf denkt kurz "schön", dann scrolle ich weiter. Ich lege mein Telefon zur Seite, ich sollte duschen.

@soso_aroundtheworld We try to make ukrainian kids smile Georgia stands with Ukraine #foryou #ukraine #nowar #russiaoccupant ♬ original sound - Sosonebieridze

7.59 Uhr: Ich öffne die App schon wieder und schiebe mir ein Stück Bananenbrot in den Mund. Als Nächstes sehe ich eine Influencerin. Sie nennt sich @Valerisssh. Ich kenne ihr Gesicht mittlerweile gut, ihre Videos schaue ich immer zu Ende. Nach Kriegsausbruch postete sie, wie sie Kaffee im Bunker zubereitet, ohne Elektrizität. Ihre Videos unterlegt sie mit Sounds aus anderen, eigentlich belanglosen TikToks. Popsongs, Gute-Laune-Songs. Sie parodiert sich im Prinzip selbst. Mittlerweile ist sie nach Italien geflüchtet. Dieses Video ist mit "How ukrainian refugee lives in Italy" betitelt. Im Hintergrund läuft das Sex-and-the-City-Intro. Sie wirkt gefasst, schon im Bunker wirkte sie sich der Situation sachlich bewusster als ihre Eltern, die mit ihr dort wohnten. Sie fährt nach Rom und erzählt von ihrer Flucht im TV.  

10.42 Uhr: Ich greife nach meinem Telefon, was bei einer Bildschirmzeit von durchschnittlich sieben Stunden am Tag nicht ungewöhnlich ist. Auf TikTok lächelt ein Baby, dann zerschneidet jemand Seifen und nennt das "beruhigend". Täglich bin ich bestimmt zwei Stunden auf der App. Ich würde gerne mit mir selbst debattieren, wie gesund das für mich sein kann, aber TikToks anschauen ist entspannender als dieser Gedanke. Nach ein paar Koch- und Tanzvideos erzählt eine Frau vom Einkaufen während des Krieges. Dann folgt ein Video mit Bildern von zerbombten Häusern, unterlegt mit klassischer Musik. Ich denke an die Bilder aus Syrien, wie entstellend Krieg prinzipiell ist. Wie zerbombte Häuser überall gleich aussehen. Und ich erinnere mich daran, dass ich die Bilder aus Syrien auf Facebook gesehen habe, ohne Musik. Ab und an entsteht ein emotionales Ziepen in der Brust, dann überkommt einen die Traurigkeit dieser Realität, dann fängt man sich wieder. Man ist ja nur Zuschauer, der weiterverarbeitet, teilt, likt.  

11.01 Uhr: Der Wechsel zu Twitter. Ich benutze Twitter, um mitzubekommen, was Karl Lauterbach nachts so macht. Nachdem wochenlang getwittert wurde, dass ja nun wirklich ein Krieg in Europa ist, wird nun getwittert, dass das nun europäische Realität ist. Ich denke zynisch an die Jugoslawienkriege, die einige ab und an zu vergessen scheinen. Ich hasse die Arroganz, Krieg als etwas Neues anzusehen, peinlich.  

14.07 Uhr: Während ich unterwegs bin, ein Außentermin, gehe ich wieder auf TikTok. Reine Gewohnheit. "In Deutschland alles teuer" wird gesungen. Jemand bestreicht eine Pfanne mit einem Tropfen Sonnenblumenöl. Ich empfinde das als lächerlich und denke daran, dass ich gerne mit Butter brate, was ein Glück. Dann ekele ich mich kurz vor meinem Gedanken, der durch das nächste Video über Bella Hadid direkt wieder verdrängt wird.  

18.19 Uhr: Nach Feierabend hänge ich auf dem Sofa. Ich esse eine Bowl, deren Zutaten ich bei einem Lieferdienst bestellt habe. Ich sehe einen maskierten Mann, in Uniform, der eine schluchzende Frau im Arm hält, im Hintergrund läuft Sia. Er hält eine Rose, ich stelle den Teller kurz zur Seite und trinke einen großen Schluck. Mir kommen kurz die Tränen. Wechsel zu Instagram, ich sehe Annalena Baerbock mit Helm.  

23.01 Uhr: Zwischendurch erzählen Leute, dass sie Corona haben. An manchen Tagen denke ich, wie irrelevant dieses Virus ist, dann poppt ein Long-Covid-Video auf und meine Lungenflügel pumpen sich schneller mit Luft auf. Zeit, diese Scheiß-App zu schließen.  

Dienstag, 6.01 Uhr: Scheiße, Will Smith hat jemanden geklatscht. Ich denke, dass das für alle Beteiligten einfach peinlich ist, vielleicht sollten wir die Oscars abschaffen. Und ich denke, dass die weibliche Mehrheitsgesellschaft denkt: "Hätte meiner ihn nicht geklatscht, sofort Schluss." Das Patriarchat lebt auch in mir! 

6.17 Uhr: Jessica Chastain hat diesen Oscar verdient, Gott sieht die gescheit aus, in Roségold. Ich entdecke ein Video aus der Flüchtlingsunterkunft in Berlin. Es werden noch Sachspenden gesucht, die keine benutzten Klamotten sind, Windeln zum Beispiel. Ich wechsele auf Twitter. Lese, dass afghanische Flüchtlinge verlegt werden, damit genug Platz für die neuen ist. Was für ein gegenseitiges Ausspielen der Wertigkeit, für die die Flüchtenden selbst gar nichts können. Ich retweete, mehr bleibt nicht.  

@jessicachastain The stars behind the scenes of my Oscars' look ✨ @LA MER , Kristofer Buckle, Renato Campora, Elizabeth Stewart ✨ #LaMerPartner #Oscars ♬ Sunroof - Nicky Youre & dazy

18.44 Uhr: Die ukrainische Influencerin von gestern zeigt ihren Tag in Italien, mal lächelt sie verschmitzt oder ironisch, keine Ahnung. Ich denke immer wieder "Respekt", dann erklärt mir jemand, wie ich bei H&M besser umtauschen kann. Habe Hunger, sollte essen.  

23.09 Uhr: Russische Soldaten? Keine Ahnung, aber sie zeigen ihre Uniform. Ich merke, wie es mich triggert, so etwas nicht verifizieren zu können. Ich behalte die Bilder dieser Videos wie Screenshots in meinem Hirn. Waffen, Tote, Soldaten – und das Unbehagen der Hilflosigkeit. Was ein Selbstmitleid. Und wieder ploppt die Frage auf: Für wen ist Krieg eigentlich etwas Neues? Ich wechsele erneut zu TikTok, denn die Kurzweiligkeit der Videos ist verführerisch. Mir werden seit Beginn des Krieges Videos mit Bildern von Verletzten, manchmal Soldaten, mal von Kindern angezeigt und ich kann weder sagen, ob sie tot sind, noch ob sie Ukrainer oder Russen sind. Russische Propaganda, falsche Informationen, auf TikTok glaube ich per se eigentlich nichts.  

Mittwoch, 8.44 Uhr: Ich öffne Twitter, dort diskutiert man über "Z". Und über die patriarchale Kraft der Ohrfeige, immer noch. Jesus Christus. Der narzisstische Drang, meine unpopuläre Meinung auszudrücken, überwältigt mich hin und wieder. Wechsle zu TikTok, in jedem zweiten Video begegnet mir ein Witz über Jada Pinkett Smith, und ich denke: Meine Fresse, so eine Ehe kann man durchaus beenden.  

17.05 Uhr: Ich hänge seit 40 Minuten auf der App. Viele Kochvideos. Irgendwann ploppt ein älteres Video der ukrainischen Influencerin auf. Sie erzählt, dass ihr Bruder im Krieg gegen die Ukraine gefallen ist, ich setze mich aufrecht hin. Fuck. Woher nimmt man die Kraft, zwei Wochen später Aufmerksamkeit zu schaffen, auf TikTok die Menschen am eigenen Schicksal teilhaben zu lassen? Ich like das Video und schließe die App, als ich das Gesicht ihres Bruders sehe.  

@valerisssh

I love u, bro Putin is an evil

♬ eventually slowed - xxtristanxo

Manchmal frage ich mich, ob ich abgestumpft bin. Mal kommen mir die Tränen, mal lasse ich einen pflichtbewussten Like da und scrolle weiter. Ich glaube, das ist keine Kälte. Ich bin dauerberührt. Mir ist das Schlimme immer bewusst, es überrascht mich nicht, es triggert nicht. Es ist immer da. Und es berührt immer. Aber man gewöhnt sich daran. Manchmal schäme ich mich dafür, mir diese Abgestumpftheit leisten zu können.  

18.09 Uhr: Mir werden die Impfgegnervideos einer Sächsin in den Feed gespült. Sie tanzt und trägt Shirts, auf denen "Morgen kommt der Boosterhase" steht. Gänsehaut, ich schaue in die Kommentare. Zustimmung und vor allem junge Leute, die sie beleidigen. Debattenkultur made in Germany. Ich gebe mir den ganzen Account. 

18.47 Uhr: Auf Twitter argumentiert jemand, wie wichtig es ist, europäische Flüchtlinge aufzunehmen, weil man ja direkt was damit zu tun hat. Irgendein Rechter schreibt: Da kommen ja wirklich Frauen! Ich denke: Nun gut, schwanger 10.000 Kilometer mit dem Schlauchboot oder mit Autos und dem Zug von Warschau, der Vergleich hinkt. Ich muss offline gehen. 

Donnerstag, 6.41 Uhr: Ein Bundestagsabgeordneter der SPD, der sich mit der AfD streitet, ein süßes Baby, ein Video über die Zerstörung Kiews, drastischer Pop darunter. Ich lege das Telefon ab und mache lustlos Rührei, das letzte Video wiederholt sich sechsmal, bis ich genervt von der Melodie eins weiterscrolle.  

Ein krebskrankes Kind, Resse Witherspoon. Gute Nacht 

Donnerstag, 7.01 Uhr: Ein deutscher Jugendlicher aus dem Kinderheim zeigt, wie er sich selbst versorgt. Zwei Videos weiter eine junge Frau, die ihren Vater durch Corona verloren hat. Sie weint, die Kommentare voller Mitleidender, die Gleiches berichten. Ich hänge 15 Minuten mit Tränen über der Kommentarspalte. Sollte Mama eine WhatsApp schreiben.  

16.05 Uhr: Ich scrolle seit zwei Stunden durch die App, kann nicht aufhören. Noch ein Video, Harry Styles verkündet seine neue Single für Mitternacht. Klingt geil, werde safe bis 00.00 wach bleiben. Dann ein Video eines jungen Mannes, der sagt, er würde niemals für Deutschland in den Krieg ziehen, wenn er müsste. Fuck, hast du keine anderen Sorgen, Junge? Vielleicht geht mir so was durch den Kopf, weil ich diese Entscheidung meinen Bruder nicht im Albtraum treffen sehen möchte.  

23.58 Uhr: Gleich geht Harry Styles' Song online. Ich merke, wie müde ich bin, frage mich, ob fit sein mit 21 eigentlich final vorbei ist. Video online. Erste Kritiken. Wenn Harry wieder keine Grammys bekommt, boykottiere ich die. Ich scrolle weiter, bis mindestens ein Uhr. Ich sehe die ukrainische Influencerin wieder. Ein krebskrankes Kind, Reese Witherspoon. Gute Nacht.  

Freitag, 7.41 Uhr: Mit einem Kaffee sitze ich auf der Bettkante, im Zimmer läuft Dua Lipa. Ich öffne Instagram, lasse mich berieseln von Outfits. Switche zu TikTok. Dort erklärt mir der Account von ZEIT ONLINE den Unterschied zwischen das und dass, beide Wörter hasse ich aufrichtig und danke dem lieben Gott für die Autokorrekturfunktion von Google Docs.  

12.31 Uhr: Ich löffele Kartoffelpüree aus einer pastellgrünen Schale. Mit cineastischer Untermalung ploppt ein Video mit Soldaten auf, die heroisch stolzieren, unten steht "Heros" und in den Kommentaren dankt man ihrer Tapferkeit. Jemand schreibt, wie skurril solche Bilder im Jahre 2022 doch seien, und ich denke zynisch, Myanmar bis Syrien scheinen doch wirklich kein Teil der Welt zu sein.  

18.02 Uhr: Überall Bridgerton, ob Instagram oder TikTok, ich werde überflutet, es nervt mich. "Kein Interesse" geklickt, das nächste Video kommt trotzdem. Ich sollte mal wieder lesen, zumindest so lange, bis es endlich wieder etwas wie Fleabag auf dem Markt gibt.  

19.07 Uhr: Auf TikTok spricht jemand über narzisstische Eltern, eine Eule möchte Dua Lipa heiraten. Und ein Video über Montessori-Erziehung: Zweijährige, die abspülen. Das stresst mich. Als würde diese Welt nicht genug Verantwortung mit sich bringen. Mein Kind wird nicht spülen.  

23.54 Uhr: Markus Söder, der erklärt, wer sein liebster Fußballer ist. Junge Wählergruppen muss man abholen. Ein Video an der Grenze, Zelte, Schnee, frierende Kinder. Man erkennt, dass hier Afghanen und Syrer sitzen, sicherlich noch viel mehr Menschen, die nicht slawisch sind. Schön, dass man Polen für seine freundliche Aufnahme von Geflüchteten feiert. Ich sende das Video an meine Freundesgruppe, dann gehe ich schlafen. Ich beschließe, am Wochenende kein TikTok zu benutzen. 

@csuauftiktok @coachem089 antworten / Der beste #Fußballer aller Zeiten? ⚽️ #fragMarkusSöder ♬ Originalton - CSU
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