Körperideale: "Du musst etwas für deinen Körper tun, sonst kann dir keiner helfen!"
- Wenke Husmann

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Diesen Sommer einen "Brazilian Butt"? Die Möglichkeiten, den Körper zu formen, werden umfassender. Die Soziologin Gabriele Klein weiß, wie das unser Selbstbild verändert.
Viele Menschen wenden enorme Zeit und Geld auf, um ihre Körperformen zu perfektionieren. Doch wie wir uns diesen idealen Körper vorstellen, hängt nicht nur von Moden ab, es hängt auch von der gesellschaftlichen Schicht ab und vom politischen System, in dem wir leben. Die Soziologin Gabriele Klein hat intensiv über unser Verhältnis zum Körper geforscht. Im Gespräch erklärt sie, warum wir überhaupt danach streben, unseren Körper in ganz bestimmte Formen bringen zu wollen.
Wie sieht der perfekte Körper aus? Und wie unterscheidet er sich im Sommer 2022 von anderen Sommern?
Wir haben heute nicht das eine Körperideal. Das gab es noch nie, aber unsere Wunschvorstellungen vom perfekten Körper sind in den vergangenen Jahren noch viel differenzierter, noch viel unüberschaubarer geworden. Derzeit fällt jedoch ein Trend auf: Auf vielen Bildern und Werbeplakaten ist der weibliche Po, geformt mitunter durch den Brazilian Butt Lift, groß in Szene gesetzt. Die Frauen stehen seitlich oder hocken mit dem Rücken zum Betrachter, zeigen ihm ihren prallen Po und blicken dabei kess über die Schulter. Dieser pralle, üppige Po ist für weiße Frauen neu. Es ist ein Schönheitsideal, das aus schwarzen Kulturen stammt.
Warum ist dieser üppige weibliche Po gerade jetzt beliebt?
Schon im 20. Jahrhundert haben uns Bewegungsformen aus den schwarzen Kulturen Amerikas stark beeinflusst: Viele Trendsportarten und eigentlich alle Modetänze dieses Jahrhunderts wie Rumba, Rock ’n’ Roll, Lambada und Hip-Hop stammen dorther. Mit ihnen sind Ästhetiken für bestimmte Körperhaltungen, Bewegungsformen und -figuren verbunden. Daneben spielen sicherlich Personen wie die Kardashians, also einflussreiche Influencerinnen mit ihren vielen Followern, eine wichtige Rolle. Sie initiieren Trends und prägen über Social Media unsere Körpervorstellungen.
Gabriele Klein studierte Soziologie, Geschichte und Sportwissenschaft und ist seit 2002 Professorin für Soziologie der Bewegung und Performance Studies an der Universität Hamburg und wird ab September zudem Special Professor for Ballet and Dance an der Universität Amsterdam. Mit ihren zahlreichen Publikationen prägte sie die Soziologie des Körpers. Demnächst erscheint ihr jüngstes Buch "Ferne Körper. Berührung im digitalen Alltag".
Was finden Menschen an dieser Sanduhrform des weiblichen Körpers so reizvoll?
Hier steht üppige Weiblichkeit im Vordergrund – und zwar in doppelter Hinsicht. Wir verbinden damit zum einen Sexyness, zum anderen Gebärfähigkeit, das Mütterliche, Spendende. Es ist ein Schönheitsideal von Weiblichkeit, das wir gerade wiederentdecken und das historische Anknüpfungen hat, so in der Malerei von Rubens oder auch bei Filmschönheiten wie Marilyn Monroe und Raquel Welch, bevor mit der dünnen Twiggy ein neues Schönheitsideal in Mode kam.
Gleichzeitig fällt auf, dass auf Bildern und Werbeplakaten viele Männer Bart tragen. Betonen wir gerade den Kontrast zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit?
Ja. Aber es geht nicht nur um eine alte und lediglich neu gestaltete heteronormative Ordnung. Es gibt heute auch eine wichtige queere Bewegung, die mit dieser Ordnung spielt. So beispielsweise die Dragqueen Conchita Wurst, die 2014 den Eurovision Song Context gewann und mit ihren Auftritten diese heteronormative Ordnung infrage stellt.
Warum wollen wir überhaupt, dass unser Körper eine bestimmte Form hat? Man könnte ja beispielsweise auch anstreben, sich jeden Tag intensiv weiterzubilden, also seinen Intellekt zu formen, statt zu joggen oder ins Fitnessstudio zu gehen?
Der Mensch hat sich schon immer intensiv mit dem Verhältnis zu seinem Körper auseinandergesetzt. Der Körper ist doppeldeutig. Zum einen hat man ihn: Man wäscht, pflegt und gestaltet ihn. Und man braucht ihn, um zu arbeiten, zum Essen, für Sex. In diesem Sinne ist unser Körper Objekt. Er ist aber auf der anderen Seite auch Subjekt, weil der Mensch gleichzeitig sein Körper ist. Mit ihm und über ihn spüren, fühlen und empfinden wir und erfahren wir die Welt um uns herum. Dieses Objekt-Subjekt-Verhältnis ist ein genuin menschliches. Das Tier hat das nicht. Ein Tier ist sein Körper, es hat ihn nicht und kann mit ihm nicht ins Verhältnis treten. Ein Tier bewegt sich instinktiv in der Welt. Wir Menschen hingegen orientieren uns – bis auf ein paar schwach ausgebildete Instinkte – in der Welt, indem wir ihr Sinn zuschreiben.
Aus diesem Verhältnis von Körpersein und Körperhaben erklärt sich auch das Streben nach seiner Gestaltung. Und dieses unterschied sich schon immer geschlechtsspezifisch. So formte die Antike das männliche Ideal eines Körpers des Krieges, der Verteidigung und des Kampfes. Zudem waren bis weit zurück in die europäische Geschichte und auch die Geschichte anderer Kulturen Körperideale immer auch klassenspezifisch. Für die mittelalterliche Landbevölkerung beispielsweise war der perfekte Körper in erster Linie einer, der funktional auf das ausgerichtet war, was er tun musste: körperliche Arbeit auf dem Feld verrichten, Kinder gebären.
Auf mittelalterlichen Abbildungen scheinen die Körper der Adeligen keineswegs für diese Aufgaben geformt. Frauen sollten offensichtlich schmal sein mit einem kleinen, runden Bauch und kleinen, weit auseinanderliegenden Brüsten. Um das Wachstum der Brust früh zu unterdrücken, tat man absurde Dinge, wie sie mit Fledermausfett zu salben. Die Männer sollten hingegen stark, aber nicht muskulös wirken. Und natürlich war der Adel blass.
Ja, adelige Körper setzten sich auch durch die Inszenierung ihrer Körper von der Landbevölkerung ab. Deren Körper war allein dadurch, dass man sich viel draußen aufhielt und arbeitete, braun gebrannt, kräftig und muskulös und auch durch die harte Arbeit gezeichnet. Den Körper bewusst zu gestalten, ist immer schon ein Privileg der oberen Klassen gewesen. Als sich die strengen Standesgrenzen, also die strikte Dreiteilung in Klerus, Adel und Landbevölkerung, mit der Moderne auflöste, verbreiteten sich die Schönheitsideale der oberen Schicht auch allmählich in anderen Gesellschaftsschichten: Immer mehr Menschen investieren seitdem Zeit und Geld, um ihren Körper schön zu machen. Ein perfekter Körper wird zum erstrebenswerten Gut.
In unserer heutigen Gesellschaft kommt noch etwas anderes hinzu: Vor allem junge, gut ausgebildete Menschen messen materiellen Statussymbolen wie Autos und Uhren eine immer geringere Bedeutung zu. Die Sharing Economy, an der sich immer mehr Menschen beteiligen, und das wachsende Umweltbewusstsein haben dazu beigetragen. Dadurch erhält der Körper als Statussymbol eine größere Bedeutung. Er wird zu unserer Visitenkarte.
Der Wert dieser Visitenkarte ist durchaus wörtlich zu verstehen. Wer beispielsweise einen Spitzenjob anstrebt, sollte besser groß, schlank und fit aussehen. Aber warum glauben wir, dass solche Menschen besser arbeiten?
Weil wir eine Verbindung von inneren Werten und Haltungen und körperlichem Ausdruck unterstellen. Wir meinen, am körperlichen Ausdruck zu sehen, ob der Mensch leistungsstark, ausdauernd, durchsetzungsfähig und auch leidensbereit ist. Ein fit aussehender Körper suggeriert Selbstverantwortung. Wenn der Körper nicht nur als Hülle, sondern auch als Ausdruck des Seins wahrgenommen wird, wird die Arbeit am Körper zum sozialen Imperativ: Sei schön! Sei schlank! Sei fit! Michel Foucault hat diesen sozialen Imperativ in Technologien des Selbst als neue Form der Biopolitik, als Sorge um das eigene Selbst beschrieben. Diese Selbstsorge wird zum Muss: Du musst etwas für deinen Körper tun, sonst kann dir keiner helfen! Diesen Aktivitätsmodus haben 30 Jahre später die sozialen Medien quasi auf die Spitze getrieben: Wenn du nicht aktiv bist, dann bist du hier nicht existent.
Gerade das Körpergewicht bewerten wir besonders stark, Übergewicht oft negativ. Warum?
Im Alltagsverständnis gehen viele davon aus, dass man sein Essverhalten kontrollieren kann, und wer die Kontrolle über sich verliert, ist in unserer Gesellschaft nicht gut angesehen. Dazu kommt, dass unsere Esskultur sozial differenziert ist, was in den USA noch stärker ausgeprägt ist: Die Wohlhabenden, akademisch Gebildeten essen gesund, dosiert und makrobiotisch. Die anderen machen an ihrem Körper sichtbar, dass sie sich dieses Essen nicht leisten können und auch andere Essensvorlieben haben: Sie essen nicht nur billiges Fleisch, sondern gleich noch Mengen davon.
Wir sprechen hier vor allem über das Äußere. Eigentlich könnte man doch sagen: Mich um meinen Körper zu kümmern ist schön, weil es gesund ist. Warum geht es aber vielen offenbar eher um die Form als um ihre Gesundheit?
Das hängt von den Milieus und Altersgruppen ab. Der Großteil der Fitnessstudiobesucher ist zwischen 25 und 45 Jahre alt. Es ist vor allem eine urbane Klientel, die mobil ist und gewohnt, ihren Alltag individuell und flexibel zu gestalten. Wenn sie etwas für ihren Körper tun, geht es ihnen darum, dass sie sich wohlfühlen wollen. Doch dieses Wohlbefinden ist nicht unbedingt an Gesundheit gebunden, sondern hängt am Äußeren: bei den Männern am Sixpack, bei den Frauen an Bauch, Beine, Po. Und es gibt eine große Gruppe, die für diese Ziele unterstützende Mittel nehmen: die Männer, um mehr Muskeln aufzubauen, die Frauen, um mehr Fett abzubauen. Das ist nicht wirklich gesund. Ihnen gegenüber steht die Gruppe der über 60-Jährigen, für die weniger das Shaping im Vordergrund steht, als Herz und Kreislauf in Schwung zu halten. Sie treiben Gesundheitssport. Ein Begriff, den es übrigens noch gar nicht so lange gibt.
Woher kommt er?
Seitdem die Überalterung der Gesellschaft zum Thema geworden ist und mit ihr die Erkenntnis, dass die Gesundheitsversorgung immer aufwendiger und teurer wird, gibt es einen Wechsel zu einer Gesundheitspolitik, die auf Prävention und Selbstverantwortung setzt. Entsprechend gab es seit den Siebzigerjahren Kampagnen, wie etwa die Trimm-dich-Bewegung oder später das In-Form-Programm, die von Bundes- und den Landesregierungen, Krankenkassen, Gesundheitsämtern und Sportverbänden gefördert werden und sich an möglichst viele Menschen richten sollen.
Unsere Fitnesskultur ist politisch gesteuert?
In Deutschland wird das Durchschnittsalter immer höher, und das Verhältnis von älteren zu jüngeren Bevölkerungsgruppen verschiebt sich zuungunsten der letzten. Wegen dieses demografischen Wandels müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie nicht nur die Renten, sondern auch die Gesundheitsversorgung finanziert werden sollen. Deshalb sind Präventionsprogramme elementar wichtig. Sie zielen darauf ab, dass die Menschen tatsächlich "etwas für sich tun" wollen – und darunter nicht nur ins Kino gehen, Feiern, Essen oder Trinken verstehen, sondern auch sich fit halten und sich gesund ernähren.
Inwiefern ist das Körperbild, nach dem wir streben, politisch motiviert?
Selbstsorge um den eigenen Körper ist eine Form der Biopolitik, das haben wir von Foucault gelernt. Hinzu kommt in westlichen Gesellschaften die Individualisierung. Hier steht der singuläre Körper im Vordergrund. Er wird so gestaltet, dass er die eigene Individualität zum Ausdruck bringt und repräsentiert. Anders in Diktaturen oder kommunistischen Staaten: Dort wird der einzelne Mensch als Teil eines Kollektivs gesehen. Dieser Kollektivkörper wird ständig inszeniert – etwa bei der Spartakiade in der DDR oder heute bei Massenchoreografien in China oder Militäraufmärschen in Nordkorea. Im Nationalsozialismus kam noch die rassistische Ideologie hinzu, die den "germanischen" Kollektivkörper ideologisch überhöhte, um Diskriminierung, Erniedrigung, Ausgrenzung bis hin zu Massentötungen zu legitimieren.
Unsere Körper spiegeln also unsere jeweils aktuelle Gesellschaft wider?
Der Körper ist nicht nur ein Spiegel der jeweiligen Gesellschaft, sondern er setzt aktuelle gesellschaftliche Zustände, Veränderungen und Trends auch um, macht sie also für die Einzelnen wirklich und erfahrbar. Das kann man immer an der Mode, am Essen und an der Art, wie wir uns bewegen, am Tanzen oder am Sport ablesen.
Um noch einmal auf den derzeit sehr angesagten großen weiblichen Po zurückzukommen: Welche aktuellen Entwicklungen lesen Sie an ihm ab?
Abgesehen davon, dass die Zahl der Körperideale vielfältiger und auch das Imperfekte selbstverständlicher geworden ist, ist vor allem neu, wie wir unseren Körper gestalten. Alle Gesellschaften kennen die Kunst der Körpergestaltung, also etwa das Pudern der Haut, das Gestalten der Haare, das Tätowieren und Maskieren. Hinzu kommt die Arbeit am Körper, wo der Körper quasi eine Dauerbaustelle ist, wo ständig gearbeitet und umgebaut wird. Und diese harte körperliche Fitnessarbeit wird nunmehr durch Schönheitstechnologien ergänzt und auch ersetzt: Wir spritzen Lippen voluminöser, pflanzen Brustimplantate, lassen Fett absaugen, entfernen Rippen und verlängern die Körpergröße. All diese Technologien werden für immer mehr Menschen zugänglich und erstrebenswert. Aber nicht nur deswegen steigt die Zahl der Schönheitsoperationen. Sie werden auch zu Moden, zu etwas Temporärem. Wenn Sie sich heute mit Eigenfett einen Brazilian Butt modellieren lassen, können Sie Ihr Eigenfett irgendwann auch wieder absaugen lassen. Tattoos, Brustvergrößerungen – all das kann man mal machen und dann wieder sein lassen. Körperoberfläche und Körperform werden dadurch zu einer Art Spielzeug.
Und was bringt die Zukunft?
Wir leben in einer hybriden Welt, in der unser analoges und unser digitales Dasein immer stärker miteinander verschmelzen. Bilder von uns zu posten und digital unterwegs zu sein ist enorm wichtig geworden. Aber in der digitalen Welt brauchen wir unseren Körper nicht mehr mit viel Aufwand und Arbeit tatsächlich zu verändern. Wir können Fotos mit Photoshop retouchieren, Profile faken und uns als Avatare in Szene setzen – und dies mit einem Körper, der zeitlos ist. So wie ABBA, die nun ihr Comeback feierten mit Avataren, den sogenannten Abbataren, die aussehen wie die Popstars, als sie dreißig Jahre alt waren.
© ZEIT Magazin (Zur Original-Version des Artikels)