Bestnoten: Der Corona-Bonus im Abitur

Autor*innen
Rainer Bölling
Figur mit Menschenkörper und Waschbärkopf sitzt nach vorn gelehnt an einem Tisch und tippt auf einem Laptop.

Trotz des pandemiebedingten Distanzunterrichts gab es selten so viele gute Noten im Abitur. Mögliche Probleme werden verschleiert. Das wird nicht ohne Folgen bleiben. Ein Gastbeitrag.

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Wegen der Corona-Pandemie blieben die Schulen in Deutschland im Frühjahr 2020 und Winter 2020/21 insgesamt 105 Tage ganz und bis zu 170 Tagen teilweise geschlossen - länger als in anderen Ländern. Der zumindest anfangs wenig effektive Distanzunterricht vermochte nicht zu kompensieren, dass Schule als Lernort und sozialer Raum wegfiel. So kam es bei den betroffenen Schülerinnen und Schülern neben psychischen Belastungen und Bewegungsmangel zu Lernrückständen, deren Ausmaß bisher allenfalls ansatzweise ermittelt wurde. Manche Autoren wollen auch langfristige Nachteile im späteren Berufsleben nicht ausschließen.

Einige Bildungsökonomen glauben sogar schon zu wissen, dass den von den Schulschließungen Betroffenen ein lebenslanger Einkommensverlust von 4,5 Prozent droht. Sie schließen das aus einer fragwürdigen Studie zu den Auswirkungen der Kurzschuljahre von 1966/67, in der eine zufällige statistische Korrelation als kausaler Zusammenhang fehlgedeutet wurde. Jedoch hat es damals weder gesonderte Besoldungstabellen und Tarifverträge für Absolventen der Kurzschuljahre gegeben, noch sind solche für die von der Pandemie betroffene Schülergeneration zu erwarten. Als Indikatoren für die Folgen der coronabedingten Schulschließungen verdienen hingegen die Abschlussquoten am Ende der Sekundarstufe II und die dabei erzielten Noten erhöhte Beachtung.

In Deutschland lag der Anteil der Absolventen mit Allgemeiner Hochschulreife (Abitur) am jeweiligen Altersjahrgang vor Beginn der Epidemie bei 40 bis 41 Prozent. Für 2020 aber weist die amtliche Statistik nur einen Wert von 37,2 Prozent aus. Doch was auf den ersten Blick als dramatischer Einbruch erscheint, hat eine ganz andere Ursache. In diesem Jahr nämlich entließen die niedersächsischen Gymnasien wegen der Rückkehr zum neunjährigen Lehrgang einmalig keine Abiturienten. Rechnet man diesen Sondereffekt heraus, so liegt die Abiturientenquote bundesweit weiter bei 40 Prozent, zu denen noch etwa 10 Prozent Absolventen mit Fachhochschulreife kommen. Insgesamt erwirbt also in Deutschland etwa die Hälfte eines Jahrgangs eine Studienberechtigung.

Abschlussjahrgang 2021 erreicht die bisher besten Abiturnoten

Die Durchschnittsnoten im Abitur sind seit Beginn ihrer vollständigen Erfassung durch die Kultusministerkonferenz (2006) im bundesweiten Schnitt jedes Jahr eine Hundertstelnote besser geworden. 2021 jedoch sprang dieser Wert den vorläufigen Daten zufolge um eine Zehntelnote von 2,37 auf 2,27. Noch deutlicher lässt sich diese Entwicklung am Anteil der Spitzennoten ablesen. In fünfzehn Jahren verdreifachte sich der Anteil der Abiturienten mit der Note 1,0 auf fast drei Prozent, wobei gut ein Drittel des Zuwachses zwischen 2020 und 2021 stattfand. Im Notenbereich von 1,0 bis 1,9 befindet sich jetzt fast jeder dritte Abiturient.

Obwohl von den Schulschließungen voll betroffen, hat der Abschlussjahrgang 2021 also die bisher mit Abstand besten Abiturnoten erreicht. Ob dies mehr auf die mit zwei Dritteln zu Buche schlagenden Ergebnisse der Qualifikationsphase oder die Abschlussprüfungen zurückzuführen ist, lässt sich anhand der vorliegenden Daten nicht sagen. Eine einschlägige Auswertung des niedersächsischen Zentralabiturs ergibt jedenfalls kein klares Bild. Anders als in Deutschland entfielen in vielen europäischen Ländern 2020 und 2021 die zentralen Abschlussprüfungen, so auch in Großbritannien. Dort gehört es zu den Voraussetzungen für die Bewerbung um einen Studienplatz, drei fachlich einschlägige Kurse mit erhöhtem Anforderungsniveau (A-Level) erfolgreich abgeschlossen zu haben. In Ermangelung der Abschlussklausuren ermittelten die Lehrkräfte auf Basis früherer Leistungen der Schüler die Zensuren. Doch da diese recht gut ausfielen, wollte das britische Kultusministerium die Notenvergabe lieber einem Computerprogramm überlassen, das den Notendurchschnitt der vergangenen Jahre auf Schulebene berücksichtigte. Dagegen erhob sich ein Sturm der Entrüstung: 250 000 Menschen unterschrieben eine Petition gegen das Vorgehen des Kultusministeriums, das schließlich einlenkte.

So haben die Bestnoten bei den A-Level-Ergebnissen in England, Wales und Nordirland neue Rekordwerte erreicht: Erhielten zuvor rund 26 Prozent der Kandidaten die Spitzennoten A* oder A (bei sechs Notenstufen), so waren es unter Corona-Bedingungen 38,5 und 44,8 Prozent. Laut BBC führten Beamte der Prüfungskommission die besseren Noten darauf zurück, dass niemand einen "schlechten Tag" in einer Prüfung hatte und dass die Schüler mehrere Chancen hatten zu zeigen, dass sie gut abschneiden können.

Schriftlichen Prüfungen fielen aus

In Frankreich war 1985 das Ziel ausgerufen worden, 80 Prozent eines Jahrgangs zum Abitur (Baccalauréat) zu führen - eine Zielmarke, die erst 2019 erreicht wurde. Dazu trug neben dem seit 1808 bestehenden allgemeinbildenden und dem 1969 geschaffenen technologischen Abitur ein zusätzliches Berufsabitur mit 90 Fachrichtungen bei. 2020 nun entfielen die abschließenden zentralen Klausuren (im allgemeinbildenden Abitur mindestens fünf), die in dieser Form wegen einer Reform der Prüfung ohnehin ein Auslaufmodell waren. Mit den stattdessen aus dem Unterricht gewonnenen Noten schnellte die Abiturientenquote auf 87 Prozent hoch. Im Jahr darauf fand die Prüfung erstmals nach dem neuen Modus statt, bei dem regulär 60 Prozent der Note auf schriftlichen Prüfungsleistungen beruhen. Die Abiturientenquote sank auf 82,8 Prozent. In beiden Jahren lag aber der Anteil der Prädikate "Gut" und "Sehr gut", der noch im Jahrzehnt zuvor höchstens 24 Prozent betragen hatte, bei über 30 Prozent. Die Abiturientenquoten von mehr als 80 Prozent erscheinen umso fragwürdiger, als die betreffende Schülergeneration bei der PISA-Studie 2018 mehr als 20 Prozent sogenannte Risikoschüler aufwies.

In Italien war das Examen der Maturità 1923 als zentrale Prüfung mit elitärem Charakter geschaffen worden. Doch schon 1969 wurde den Absolventen aller 13 Schultypen der Sekundarstufe II (einschließlich Techniker- und Berufsschulen) die allgemeine Hochschulreife zuerkannt. Mittlerweile erwerben wie in Frankreich vier von fünf Angehörigen eines Altersjahrgangs eine Studienberechtigung. Seit 2019 sieht die Prüfung statt drei nur noch zwei schriftliche Prüfungen vor, zu denen eine mündliche kommt. Jede dieser Prüfungen zählt aktuell 20 Prozent der Endnote; die übrigen 40 Prozent beruhen auf Leistungen der letzten drei Schuljahre. Insgesamt sind 100 Punkte erreichbar, für das Bestehen 60 erforderlich. Infolge der Pandemie fielen nun 2020 und 2021 die beiden schriftlichen Prüfungen aus. Die Folge war auch hier eine deutliche Verbesserung der Durchschnittsnoten. Lagen sie zuvor bei rund 76 Punkten, so stiegen sie jetzt auf fast 81 und 82 Punkte an. Mehr als 15 000 Abiturienten - doppelt so viele wie 2019 - haben 2021 die Höchstnote "100 cum laude" erreicht. Sie ist mit einem Exzellenzpreis des Bildungsministeriums verbunden, der allerdings angesichts der vielen Spitzennoten nur noch 90 Euro beträgt.

Österreich hat die herkömmliche dezentrale "Matura" 2016 durch eine standardisierte kompetenzorientierte Reifeprüfung ersetzt, die drei unterschiedliche Elemente enthält: eine "vorwissenschaftliche Arbeit" zu einem selbstgewählten Thema, zentrale Klausuren in Deutsch, Mathematik, einer Fremdsprache und gegebenenfalls einem weiteren Fach sowie zwei bis drei mündliche Prüfungen. Wegen der Pandemie war 2020 und 2021 der mündliche Teil ebenso wie die Präsentation der vorwissenschaftlichen Arbeit nur freiwillig. Beim schriftlichen Teil wurde die Arbeitszeit um 60 Minuten verlängert, und bei der Wahl von vier schriftlichen Prüfungen konnte eine abgewählt werden. Außerdem wurden die Noten der letzten Schulstufe(n) in die Benotung miteinbezogen. Unter diesen Bedingungen stieg die Reifeprüfungsquote 2020 um fast sechs Prozentpunkte über den bisherigen Spitzenwert von 2019 an - auf 49,9 Prozent. 2022 jedoch fielen die Ergebnisse der zentralen Klausuren ersten Zwischenergebnissen zufolge etwas schlechter aus als im Vorjahr.

Verschleierung von Problemen

Wie ist der für mehrere europäische Länder festgestellte Höhenflug der Abiturnoten und der damit verbundene Anstieg der Abiturientenquoten zu erklären? Zum Teil mag er damit zusammenhängen, dass bei Wegfall zentraler Prüfungen von hohem Gewicht die Schüler im Unterricht mehrere Chancen hatten, ihr Punktekonto aufzufüllen. Doch in Deutschland verbesserten sich die Noten auch ohne diesen Umstand sprunghaft. Offensichtlich haben die von den Schulschließungen betroffenen Schüler von einem stillschweigend gewährten Corona-Bonus profitiert, der ihnen angesichts der großen Belastungen durch die Pandemie gegönnt sei.

Es ist allerdings zu befürchten, dass die Verschiebung der Maßstäbe in Zukunft nachwirken wird. Jedenfalls verschleiert es mögliche Probleme, wenn der Sprecher eines deutschen Kultusministeriums die guten Ergebnisse des Jahres 2021 einfach damit zu erklären versucht, "dass in der gymnasialen Oberstufe bestmögliche Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Schüler die Abiturprüfung erfolgreich absolvieren können". Schließlich sind Schulschließungen und Distanzunterricht nicht das Erfolgsrezept für bessere Noten und höhere Abschlussquoten. Sie sollten aber auch nicht zum Anlass genommen werden, die Betroffenen mit Szenarien wie dem der lebenslangen Einkommensverluste zu verunsichern.

Der Autor lebt als Bildungsforscher in Düsseldorf.

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