Fernbeziehung im Studium: Amor auf Achse

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e-fellows.net Redaktion
Zwei Hände nähern sich an. Eine Person, deren gesamter Oberkörper durch ein Herz ersetzt wurde, läuft auf einer der Hände auf die andere zu.

Was machen 344 Kilometer Entfernung mit einer jungen Liebe? Lisa, 23, und Friedrich, 24, über Selbstverwirklichung, Vertrauen und das Pro und Contra einer Fernbeziehung.

Lisa: August 2015, Homburg

Am Ende meiner Grübelei, ob ich wegen Friedrich in Homburg bleiben sollte, steht ein schallendes Lachen. Es ist das Lachen meiner Großmutter, der ich gerade diese Frage gestellt habe. Sie sagt nichts weiter, rührt nur in ihrem Tee, aber ich weiß, was sie meint: "Kind, ihr werdet den Rest eures Lebens an einem Ort zusammenkleben. Nutz die Zeit, die dir für dich alleine bleibt."

Während wir schweigend an ihrem alten Küchentisch sitzen, sehe ich die letzten fünfzig Jahre im Leben meiner Großmutter vor mir. Jeden Tag in diesen fünfzig Jahren hat sie mit ihrem Mann verbracht. Plötzlich weiß ich: Friedrich und ich haben alle Zeit der Welt. Wir haben nichts zu verlieren, wenn wir noch ein paar Jahre unser eigenes Ding machen. Wir haben viel zu verlieren, wenn wir es nicht tun.

Friedrich: September 2015, Augsburg

Es ist schon die fünfte Wohnung, die wir uns anschauen. Sie haben alle eines gemeinsam: Es gibt keinen Platz für mich. "Sie ziehen alleine ein, Frau M.?", fragt der Vermieter, wie jeder Vermieter zuvor. Und wie jedes Mal strahlt Lisa: "Jup, mein eigenes Reich!"

Ich weiß, dass ich mich für sie freuen sollte – und irgendwie tue ich das auch. Ich bin froh für sie, dass sie endlich näher an ihren geliebten Bergen wohnt. Ich bin froh, dass sie in ein paar Wochen ihren Wunsch-Master antritt. Ich bin froh über das Leuchten in ihren Augen, als sie den riesigen alten Kastanienbaum entdeckt, der direkt vor dem Balkon wächst. Diese Wohnung, diese Stadt, dieses Studium ist genau ihr Ding.

Ihres, nicht unseres.

Lisa: Oktober 2015, Augsburg

Es gibt kein schöneres Geräusch auf der Welt als die eigene Wohnungstür, die beim Heimkommen hinter einem ins Schloss fällt. Mit meiner Tasche hänge ich auch meinen Unitag für heute an den Nagel: das nahende Referat, den überfüllten Bus, meine quasselnden Kommilitonen.

Es ist 17 Uhr und noch hell und warm draußen. Ich werde mich mit einem Glas Melonenlimo auf meinen Balkon setzen, in den Kastanienbaum schauen und ein Buch lesen. Dann werde ich mir etwas kochen, oder auch nicht. Auf jeden Fall werde ich baden und eine Kerze anzünden, wenn es dunkel wird. Ich werde mich von Kopf bis Fuß eincremen, meine lila Fleecehose anziehen – und keinen BH. Ich habe alles, was ich brauche. Ich werde genau das tun, was ich will. Niemand wird irgendetwas daran ändern. Es könnte nicht besser sein.

Friedrich: April 2016, Homburg

Erst, als ich den Hörer auflegte, merke ich, dass es in meiner Wohnung dunkel ist, dunkel und leer. Sofort schäme ich mich, diesen Satz auch nur gedacht zu haben. Ich knipse das Deckenlicht an und setze mich wieder an den Schreibtisch zu meinen Baustoffkunde-Mitschriften. In anderthalb Jahren werde ich Architekt sein und anderer Leute Zuhause entwerfen: Der Gedanke hatte mich früher angetrieben, jetzt macht er mich traurig.

Natürlich habe ich Lisa oft gefragt, wie es nach unseren Abschlüssen weitergehen soll. Und natürlich hat sie mir jedes Mal versichert, dass wir dann schon einen Weg finden. Aber ich will keinen Weg finden. Ich will ein Zuhause. Und ich will, dass sie das auch will. Dass wir gemeinsam Pläne schmieden und die Tage herunterzählen, bis es endlich soweit ist. Dass wir uns sagen, bevor wir den Hörer auflegen: "Halt durch. Es wird bald alles gut sein."

Fernbeziehungen sind zum Scheitern verurteilt? Muss nicht sein, wenn du diese zehn Tipps befolgst.

Lisa: Dezember 2016, Augsburg

Erst an Weihnachten merkt man so richtig, wie falsch Distanz in einer Beziehung ist – zumindest, wenn man dem Fernsehprogramm glauben darf. Überall Paare, die gemeinsam Schlitten fahren, gemeinsam Geschenke verpacken, gemeinsam Glühwein trinken. Aber nirgendwo sieht man, wie sie im Anschluss über das dreckige Bad streiten oder übers Abendessen oder er mit den Augen rollt, weil sie lieber ihren Norwegerpulli trägt als ein Négligé.

Ich liebe Friedrich und ich liebe es, wenn wir gemeinsam Schlitten fahren, Geschenke verpacken, Glühwein trinken. Aber ich bin auch heilfroh, dass wir uns nie so lange sehen, dass das Bad dreckig wird und einer es putzen muss; dass uns noch nicht die Ideen fürs Abendessen ausgehen oder die Lust auf Sex. Ich bin heilfroh, dass es Abende gibt, an denen wir uns nur hören, nicht sehen. An denen ich tragen kann, was ich will, an denen es egal ist, wie die Wohnung aussieht. Dass die Worte "Waschmaschinenentkalker", "Urinstein" und "Essensplan" in unserer Beziehung nicht vorkommen. Dass niemand für den anderen zurückstecken muss, weder bei kleinen noch bei großen Dingen. Dass wir uns nie im Weg stehen.

Ich bin heilfroh, dass ich unsere Liebe noch ein paar Jahre vor dem Alltag beschützen kann.

Friedrich: Januar 2017, im Zug zwischen Augsburg und Homburg

Wir haben am Wochenende zusammen gekocht, wir waren einkaufen, haben beim Essen die Acht-Uhr-Nachrichten angeschaut. Wir hatten Sex und waren spazieren, wir haben geredet und gelacht. Lisa findet das perfekt. Ich finde es falsch. Unecht. Kitschig. Echte Paare stehen nicht sonntags um 16 Uhr am Bahnsteig. In einer echten Beziehung liegt nicht permanent ein Schleier über der gemeinsamen Zeit, in einer echten Beziehung läuft nicht die Uhr im Hintergrund.

Am Anfang kamen mir unsere Wochenenden endlos vor. Inzwischen weiß ich, dass das Wochenende Wochenende heißt, weil danach ein Wochenanfang kommt. Dass danach eine Woche anbricht, die ich wieder absitzen muss, in der ich mich wieder dem Freitag entgegensehne, und an deren Freitag ich wieder nur an den Sonntag denken kann.

Ich will das nicht mehr. Ich will samstags mit Lisa im Supermarkt an der Kasse Schlange stehen und darüber diskutieren, ob wir noch Kloreiniger zuhause haben und dass es dann heute Abend eben wieder Nudeln gibt. Ich will ihre unrasierten Beine streicheln und sie in ihrem hässlichen Pulli auf der Couch schlafen sehen. Ich will mir denken, dass ich jetzt nicht mit ihr schlafen will. 

Ich will keine perfekte Beziehung um den Preis der Geborgenheit. Ich will keinen Schmerz mehr und keine Abschiede und keinen Grauschleier über der gemeinsamen Zeit. Ich will Alltag. Langweiligen, banalen, immer gleichen, schmerzfreien Alltag.

Lisa: Februar 2017, irgendwo in den Bergen  

Seit zwei Stunden stapfen wir Hand in Hand durch den Schnee, und seit zwei Stunden reden wir ununterbrochen. Über seine letzte Klausur, über mein Praxissemester im kommenden Frühling, über die letzte WG-Party, auf der Friedrich war, und über das Promotionsangebot, das ich in der Tasche habe. Ich kenne viele Paare, die mit Freunden in Urlaub fahren, um nicht zu merken, dass sie sich nichts mehr zu sagen haben.

Natürlich ist sind die Abschiede nicht leicht – vor allem nicht für Friedrich, das spüre ich. Aber noch schwerer wäre es, sich in zehn Jahren sonntagsnachmittags vorzuwerfen, etwas verpasst zu haben, das nicht wiederkommt. Und vielleicht gäbe es kein "In zehn Jahren", wenn schon jetzt der Alltag unsere Liebe abnutzen würde.

Friedrich: Februar 2017, irgendwo in den Bergen        

Ich wache nachts auf, weil meine Oberschenkel so heiß sind, dass sie wehtun. Trotzdem ist mir eiskalt. Ich kann nicht schlucken.

Friedrich: März 2017, Homburg

Nach einer Woche die Diagnose: Pfeiffer’sches Drüsenfieber – ausgelöst durch ein Virus, das bei vielen Erwachsenen im Körper schlummert und oft erst unter Stress ausbricht. Die Krankheit ist nicht gefährlich, aber sie macht furchtbar müde und heilt nur langsam aus. Ich habe die letzten vier Wochen verschlafen, 22 Stunden am Tag. Nur zum Mittagessen konnte ich aufstehen, meine Klausuren habe ich alle verpasst.

Für Lisa und mich war es ein Warnschuss. Ich kann nicht mehr jedes Wochenende oder jedes zweite 10 Stunden in Zug und Bus verbringen; kann nicht freitagsabends 90 Minuten in der Mannheimer Bahnhofshalle auf den nächsten ICE warten, weil ich den ersten verpasst habe; kann nicht weiter den Großteil meines Geldes fürs Pendeln ausgeben und sonntagsabends bei Freunden in Saarbrücken auf der Couch schlafen, weil ich zu fertig bin, heim zu fahren. Von der psychischen Belastung einmal abgesehen. Andere schaffen das – ich nicht.

Ich ziehe nach Augsburg. Wir werden uns eine gemeinsame Wohnung suchen und ich mir einen Studienplatz. Wie viele Prüfungsleistungen mir anerkannt werden, weiß ich noch nicht. Freunde und Verwandte haben mich gewarnt, mir versichert, den Stress müsse ich mir doch jetzt nicht mehr antun. Aber es wäre Stress für mich, so weiterzumachen. Dieser Umzug ist genau das, was ich will. Denn ich will Lisa nicht verlieren.

Lisa: März 2017, Augsburg

Es ist schon die fünfte Wohnung, die wir uns anschauen. In jeder suche ich nach einem Platz für mich, nur für mich alleine. "Sie ziehen hier beide ein?", fragt der Vermieter. Und wie jedes Mal strahlt Friedrich: "Jup, unser erstes gemeinsames Reich!"

Ich weiß, dass ich mich freuen sollte – das tue ich auch, für ihn vor allem. Ich will ihn nicht verlieren. Aber ich will auch uns nicht verlieren, und mich nicht.

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