Boreout: Leistungskiller Unterforderung

Autor*innen
Philipp Jauch
Figur mit Menschenkörper und Waschbärkopf sitzt nach vorn gelehnt an einem Tisch und tippt auf einem Laptop.

Spätestens seit Prominente wie die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel oder Fernsehkoch Tim Mälzer über ihr Burnout gesprochen haben, stehen immer mehr Betroffene zur Diagnose Überforderung. Das gegenläufige Phänomen aber, das unterforderungsbedingte Boreout, beschäftigt die öffentliche Debatte sehr viel weniger. Dabei sind die Folgen ähnlich gravierend.

Psychische Erkrankungen sind laut DAK-Gesundheitsreport 2017 die zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland: Allein 2015 zählten die Krankenkassen 87 Millionen AU-Tage infolge psychischer Erkrankungen, die meisten hiervon aufgrund depressiver Episoden oder Störungen. Ein oftmals vergessener Auslöser: das sogenannte Boreout. Denn wie Stress und Burnout kann auch ein andauerndes Gefühl der Unterforderung depressive Episoden hervorrufen oder verschlimmern.

Was ist ein Boreout?

Anders als beispielsweise die Depression ist das Boreout erst seit wenigen Jahren bekannt und nach wie vor nicht als klinische Diagnose anerkannt. Erstmals in den Fokus der Öffentlichkeit gelangte das "Ausgelangweilt-Sein" 2007 mit dem Buch "Diagnose Boreout: Warum Unterforderung im Job krank macht" der beiden Unternehmensberater Philippe Rothlin und Peter Werder.

Da Boreout nicht im klinischen Sinne als Krankheit anerkannt ist, existiert keine einheitliche Definition. Die beiden Unternehmensberater Rothlin und Werder beschreiben das Syndrom als Kombination von Langeweile, Unterforderung und Desinteresse und den hieraus resultierenden Verhaltensänderungen. Diese wiederum ziehen Betroffene in eine Abwärtsspirale, die schlimmstenfalls im Jobverlust und/oder der Depression endet.

Wie erkennt man ein Boreout?

Obwohl – oder gerade weil – bis heute kein klinisch-psychiatrischer Boreout-Test vorliegt, haben Rothlin und Werder in "Diagnose Boreout" eine Reihe von Verhaltensweisen zusammengeführt, die auf Unterforderung, Desinteresse und Langeweile am Arbeitsplatz hindeuten. Ihnen zufolge treffen auf Boreout-Betroffene vier oder mehr der folgenden Anzeichen zu:

  • Sie erledigen immer wieder Privates zwischendurch und/oder verschicken private Mails an Kollegen.
  • Sie fühlen sich gelangweilt oder unterfordert. Die Arbeit interessiert sie nicht.
  • Sie tun vor anderen so, als würden sie arbeiten.
  • Am Feierabend fühlen sie sich erschöpft, obwohl der Arbeitstag stressfrei verlaufen ist.
  • Sie sind unglücklich mit ihrer Arbeit und vermissen den tieferen Sinn.
  • Sie arbeiten bewusst langsamer, als sie es könnten.
  • Sie scheuen den Arbeitsplatzwechsel nur aus finanziellen Gründen.

Boreout und Burnout haben ähnliche Symptome

Gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit, Gereiztheit, ständige Müdigkeit und nachlassende Konzentration – diese Symptome sind nicht in jedem Fall Ausdruck von Stress und Überforderung: Sie treten ebenso auf, wenn Menschen sich qualitativ und/oder quantitativ nicht ausgelastet fühlen. "Gerade hochqualifizierte Menschen stellen häufig hohe Ansprüche an sich und ihre Arbeit", sagt Sonja Wittig, Business-Coach am Institut für Lebensmotive in Köln. "Wenn sie dauerhaft Tätigkeiten ausführen, die sie unterfordern, mindert das nicht nur die Leistung, sondern kann zur psychischen Belastung werden und langfristig regelrecht krank machen."

Ein Boreout ist also weder Luxusproblem noch Lappalie: "Langeweile ist kein schickes Leiden", betont auch Psychotherapeut Wolfgang Merkle, der am Frankfurter Heilig-Geist-Hospital regelmäßig Patient:innen mit Symptomen eines Boreout behandelt.

Vorsicht, Abwärtsspirale!

Wer zu wenige (Langeweile) oder zu anspruchslose (Unterforderung) Tätigkeiten erfüllt, verliert über die Monate seine Motivation (Desinteresse). Die Leistungsbereitschaft sinkt, die Ergebnisse verschlechtern sich – und der Chef beziehungsweise die Chefin verteilt anspruchsvolle Aufgaben jetzt erst recht an andere Mitarbeiter:innen. Von diesem Teufelskreis ist es gerade für vorbelastete Menschen nicht mehr weit zur depressiven Episode. Die innere oder die tatsächliche Kündigung und/oder viele Fehltage sind die Folgen, unter denen letztlich auch Arbeitgeber und Wirtschaft zu leiden haben.

Die Verantwortung der Arbeitgeber

Wenn neben den Betroffenen auch die Wirtschaft unter den Folgen des "Ausgelangweilt-Seins" leidet, wie kann es dann überhaupt soweit kommen, dass Unternehmen die Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter:innen ungenutzt lassen? Sonja Wittig nennt als mögliche Ursache eine Unternehmens- und Führungskultur, die nach und nach Selbstwahrnehmung und Ziele des Mitarbeiters aus dem Fokus verloren hat. Klaffen nämlich die Erwartungen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer auseinander, ohne dass Führungskräfte dies wahrnehmen, fühlen Mitarbeiter:innen sich schnell unterfordert, schlecht ausgelastet und im Büro nicht gebraucht.

Gezielte Unterforderung, das zeigt sich im Coaching mit Arbeitnehmer:innen immer wieder, kann aber auch eine Spielart des Mobbings sein: Wer als Chef:in eine:n ungeliebte:n Mitarbeiter:in loswerden möchte, gibt ihm oder ihr zu wenige oder uninteressante Aufgaben und hofft, dass er oder sie die Konsequenzen zieht.

Was tun bei Boreout?

Die Symptome eines Boreout-Syndroms zu ignorieren kann fatale Folgen für Karriere und Gesundheit haben. Aber was hilft gegen Boreout? Sonja Wittig appelliert in erster Linie an die Besonnenheit und rät Mitarbeiter:innen, die sich unterfordert fühlen, nicht sofort zur drastischsten Maßnahme zu greifen – der Kündigung. Zwar kann ein Jobwechsel in letzter Instanz die Lösung sein, doch meist lohnt es sich, zunächst nach Verbesserungsmöglichkeiten für die jetzige Situation zu suchen. Gerade, wenn kein Grund besteht, von bösen Absichten seitens der Geschäftsführung auszugehen, hilft oft das vertrauliche Gespräch mit der Führungskraft – vorausgesetzt, Betroffene machen selbst Vorschläge, wie der Job ausgeweitet oder anders gestaltet werden kann.

Auch Rothlin und Werder nennen als ersten Schritt auf dem Weg zur Besserung den Mut, Missstände anzuerkennen und zur Sprache zu bringen: "Wir nehmen nicht mehr alles, was uns bei der Arbeit passiert, einfach hin", geben sie Betroffenen als Maxime mit auf den Weg – auch wenn dieser Schritt schwerfällt und das Problem in der Gesellschaft weiter totgeschwiegen wird.

Hilfe durch Herausforderungen in der Freizeit

Egal ob Leistungssport, Kunst oder Musik: Anspruchsvolle Aktivitäten fernab vom Arbeitsplatz können den Weg aus dem Boreout zusätzlich erleichtern, da sie ein Gefühl von Auslastung und Erfolg vermitteln. Allerdings fühlen sich viele Boreout-Betroffene auch in der Freizeit zu müde für Aktivitäten und ziehen sich immer weiter zurück. Hält dieses Gefühl der Antriebslosigkeit länger an, ist es Zeit für professionelle Unterstützung bei einem Coach oder einem beziehungsweise einer Therapeut:in. "Oft bringt schon die bloße Terminvereinbarung Erleichterung für die Betroffenen", sagt Wittig. "Die Aussicht, in naher Zukunft mit jemandem über die Situation zu sprechen, ist für viele bereits der erste Schritt aus der Unzufriedenheit."

Wie Arbeitgeber mit Boreout umgehen können

Von der anderen Seite her betrachtet zahlt es sich für die Wirtschaft unbedingt aus, die Mitarbeiter:innen dabei zu unterstützen, Aufgaben zu finden, die ihren Qualifikationen und Interessen entsprechen. Dadurch erhöhen sie die Identifikation mit dem Unternehmen, steigern die Leistungsfähigkeit und tragen dazu bei, Fehlzeiten der Angestellten durch psychische Erkrankungen zu reduzieren.

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