Familie: Wenn Eltern alt werden

Autor*innen
e-fellows.net Redaktion
Eine Person bricht fast unter der Last einer riesigen Uhr zusammen.

Deine Eltern bleiben nicht ewig jung und du bleibst nicht ewig Kind: So offensichtlich diese Erkenntnis in der Theorie scheint, so schmerzhaft ist es, wenn sie Realität wird. Sie trifft uns alle, und doch ist jeder in diesem Augenblick ganz allein. Fünf Kinder über den Moment, in dem ihre Eltern plötzlich anders waren. Alt.

1. Wenn Eltern alt werden, muss ich mir selber helfen

Als mein Mann und ich in unsere erste gemeinsame Wohnung im zweiten Stock eines Altbaus ohne Lift einzogen, bot sich auch mein Vater als Helfer an. Ich dachte keine Sekunde darüber nach, das Angebot auszuschlagen. Schließlich hatte er, begeisterter Handwerker und ausdauernder Macher, mir mein ganzes Leben lang geholfen. Bis zu diesem Tag.

Schon bei der ersten Kiste schnaufte er mehr als alle anderen Helfer. Bei der vierten oder fünften Kiste, die er ächzend nach oben schleppte, konnte ich es nicht mehr länger leugnen. Zum ersten Mal verstand ich, was die Jahreszahl auf seinem Ausweis wirklich bedeutete. Mein Vater war keine 40 mehr. Er war auch kein 65-Jähriger mit der Ausdauer eines 40-Jährigen. Er war einfach 65, Rentner, mit Bauch und einer künstlichen Hüfte. Er wurde alt.

2. Wenn Eltern alt werden, muss ich Geduld haben

Wie meine Eltern alt werden, nehme ich nicht als schleichenden Prozess oder in der Retrospektive wahr, sondern in Schüben, schockartig: Ich lebe in Norddeutschland, die beiden in Bayern, und mehr als drei Mal im Jahr sehen wir uns nicht. Unser Sommertreffen 2016 war das erste, das mich innehalten ließ. Wir gingen spazieren und plötzlich merkte ich, wie ich meinen Schritt drosseln musste, um ihnen nicht davonzulaufen. Was ich damals noch als schlechte Tagesform abtat, wurde zur Gewissheit, als die beiden mich im darauffolgenden Februar in Hamburg besuchten. Wir hatten ein volles Programm. In der Fußgängerzone aber konnte ich irgendwann gar nicht mehr so langsam gehen, wie es nötig gewesen wäre. Meine Mutter, die mit ihren 62 neun Jahre jünger ist als mein Vater, schlenderte mit einer solchen Seelenruhe daher, dass nur noch Hut und Spazierstock gefehlt hätten, um sie als Silhouette aus der Ferne mit meinem Opa zu verwechseln.

Ich hatte diesen Moment vorher nicht auf dem Schirm. Ich hätte aber vermutet, dass ich traurig sein würde oder nachdenklich. Als es dann passierte, war ich irritiert – erst über sie, dann über meine Reaktion. Ja, es nervte mich schlichtweg, mit welcher Unbekümmertheit die beiden Arm in Arm daherschlichen, während unsere Liste so lang war und der Tag so kurz. Gleichzeitig wusste ich, dass sie nichts dafür konnten und dass das jetzt unsere neue Realität war. Dass noch viele solcher Momente kommen würden, in denen wieder – plötzlich – etwas nicht mehr ging, was drei Jahrzehnte lang selbstverständlich gewesen war.

Abends wollte mein Vater mir bei einigen Handwerksarbeiten helfen, wie er es immer getan hatte. Aber zum ersten Mal lehnte er nicht ab, als ich anbot, die sechs Stockwerke Treppen hoch- und runterzulaufen, um den Bohrer aus dem Keller zu holen.

Was es jetzt braucht, ist Anpassung, und zwar zum ersten Mal in meinem Leben von meiner Seite aus. Plötzlich bin es nicht mehr ich, die laufen lernt, eingeschult wird, in die Pubertät kommt und damit alles auf den Kopf stellt. Jetzt sind sie es, wegen denen mehr und mehr Dinge drunter und drüber gehen. Wegen ihrer Langsamkeit und Vergesslichkeit, die jeden Tag ein winziges Stück schlimmer wird und mich alle paar Monate trifft wie ein Schlag.

3. Wenn Eltern alt werden, kommt die Schwermut

Kurz vor den Sommerferien traf ich meinen Vater zum Mittagessen. Seine offizielle Verabschiedung als Lehrer in den Ruhestand hatte er in derselben Woche schon hinter sich gebracht, der letzte Schultag stand aber noch aus. In einem ruhigen Moment gestand er mir, dass er sich zwar auf die Rente freue, aber auch wehmütig in die Zukunft blicke. "Jetzt beginnt der letzte Teil meines Lebens", sagte er. Dieser Satz treibt mir heute noch die Tränen in die Augen.

4. Wenn Eltern alt werden, ist mehr Zeit – und dann plötzlich ganz wenig

Meine Eltern waren schon immer älter als die der anderen. Ich habe nie erwartet, mit ihnen über den Spielplatz zu rennen. Graue Haare, lauter Fernseher, beige Klamotten – ich kannte es schon als Kind nicht anders. Auch als junger Mann überraschte es mich Mal für Mal, wie modern die Eltern meiner Freund:innen noch waren: Tablet statt Tablettendose am Frühstückstisch.

Das hohe Alter meiner Eltern hat aber auch Vorteile: Schon zu meiner Schulzeit waren die beiden Rentner:innen und hatten dementsprechend viel Zeit für meine Schwester und mich. Viele meiner Freund:innen haben ihre Eltern kaum gesehen. Ich hingegen war mit meinen ständig unterwegs: im Fußballstadion, bei Konzerten, Städtetrips, auf kleinen Weltreisen und vor allem zu Hause.

Wir hatten ja Zeit.

Es war zwar absehbar, dass meine Eltern nicht ewig im frischen Rentenalter bleiben würden. Aber wie die Zeit dann plötzlich zuschlug, hat mich überrascht. Ich war bereits ausgezogen, hatte angefangen woanders zu studieren und sah meine Eltern nur noch unregelmäßig – und oft in kleinen Urlauben, etwa in New York 2015. Wir standen an einem Hot-Dog-Stand, irgendwo Downtown Manhattan. Viele Menschen, viele Geschäftsleute. Alles war schnell-schnell. Und dann war da mein Vater. Als er in der Schlange mit schildkrötenhafter Gemächlichkeit die Dollarnoten durchblätterte und ich genervtes Stöhnen aus der Schlange hörte, merkte ich, dass er ein tatteriger, alter Mann war. Für andere war er das vielleicht schon lange. Für mich wurde er es in diesem Moment.

Meine Eltern sind inzwischen Mitte 70. Sie reden nicht gerne über die Alterserscheinungen. Aber ich ertappe mich selbst dabei, wie ich ihnen Aufgaben abnehme, weil ich denke, dass sie das nicht mehr schaffen.

Ich war es gewohnt, dass meine Eltern alt waren. Die weißen Haare und der laute Fernseher waren aber immer nur Stör-, keine Warnsignale. Jetzt sehe ich die krumme Haltung, die mit Arztterminen gefüllten Terminkalender und ungelenken Bewegungen der beiden und ich kann die Warnung nicht mehr überhören. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit.

5. Wenn Eltern alt werden, steht der Abschied mitten im Alltag

Die Eltern meiner Freund:innen sind vierzig, fünfzig Jahre alt und gesund. Mein Vater ist alt. Ich weiß es, wenn er mit zittriger Hand im Abendessen herumpikst. Wenn er mein angebliches Genuschel nicht versteht oder mit seiner Lungenkrankheit zu kämpfen hat. Er wird bald schon 70. Weil die Rente aber nicht zum Leben reicht, arbeitet er immer noch in Vollzeit. Leider lässt ihm die viele Arbeit auch im Privatleben keine Ruhe. Er schläft schlecht, ist gereizt und erschöpft.

Ich bin 21 Jahre alt und muss mir jetzt schon Gedanken über das Erbe machen und über die Pflege, die er in ein paar Jahren benötigen wird. Es schmerzt sehr zu wissen, dass ich auch eine von denen sein werde, "die früh ihren Vater verloren haben". Bei jedem Streit überkommt mich im Anschluss ein komisches Gefühl. Ich sollte nicht mit ihm streiten, weil ich schon in wenigen Jahren bereuen werde, überhaupt mit ihm gestritten zu haben.

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